Ich bin Radieschen

Liberté, Charlieté, Légèreté: Where’s the Fundbüro for this kind of lost stuff?
(Buchcover: Catherine Meurisse / Carlsen Verlag)

Mir ist, als würde ich meiner eigenen Implosion zuschauen.

Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Carlsen Verlag 2017

7. Januar 2015. Der Tag des Massakers zweier durchgeknallter Dattelpalmenschänder am Team von Charlie Hebdo. Zeichnerin Catherine Meurisse ließ sich an diesem Tag etwas Zeit mit dem Aufstehen und widerlegte die alte (angeblich gepimpfakte) Gorbatschow-Ansage „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Als Catherine in der Rue Nicolas-Appert angetrödelt kam, waren ihre Kollegen und Freunde schon tot. Sie überlebte. Puh! Und fuck! Überleben ist nicht dasselbe wie leben.

Planet Charlie

Über die Zeit danach hat Catherine Meurisse ein Tagebuch gecomict, eine Novel gegraphict mit dem gefühlten Titel Auf der Suche nach der verlorenen Leichtigkeit. Der tatsächliche Titel ist etwas kürzer: Die Leichtigkeit. Es gibt Tage, manchmal Wochen, das ist jeder Satz ein Marathonlauf. Und jedes Aufstehen eine Mount-Everest-Expedition. Die Düsternis inside lässt sich nur erahnen. „Darker’n a black steer’s tookus on a moonless prairie night”, um den goody ol‘ Cowboy-Stranger aus The Big Lebowski herbeizuzitieren. Und wo bitte geht’s zur Leichtigkeit? Für einen Satire-Menschen gibt es zwei Hinterausgänge: Schönheit und Humor. Bei Catherine Meurisse ist das oft dieselbe Tür. Eine ganze Reihe Panels widmet sie „Je suis Charlie“: Mal heißen alle Produkte im Supermarkt „Je suis Charlie“, mal solidarisiert sich die gekreuzigte Jesusfigur via Windel, Sticker und überklebter INRI-Tafel, mal trägt ein Hund das Soli-Logo auf seiner Jacke und das Frauchen packt die Hundemine in einen Beutel mit „Je suis Charlie“-Aufdruck. Auch irgendjemand nicht Charlie? Ein Panel später pustet ein Typ mit Laubbläser und Charlie-Rucksack die ganzen Soli-Zettel vom Gehsteig wie Laub. Währenddessen steigt in der verbliebenen Charlie-Redaktion Catherines Denkblase auf: „Wer bin ich?“ Das klärt sich an einer anderen Stelle: Catherine entdeckt „am Ende der Welt“ einen Gemüsestand mit „Je suis Charlie“-Schild. Direkt unter den Radieschen. Sie kauft eine Tüte voll und denkt „Ich bin Radieschen.“

(Cartoon: Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Carlsen Verlag 2017)

Zornminute

Und überhaupt: „Wieso erlegt man uns in Würdigung der Opfer eine Schweigeminute auf?“, fragt sie in einem Bild. Gleich daneben, rot aquarelliert und den Körper aufspannend wie ein grimmiger Obelix, donnert die gezeichnete Catherine: „Was wir brauchen, ist ein Jahrhundert brüllenden Zorns!“ Sehr lustig auch die geheime nächtliche Sprayer-Aktion dreier Ladys featuring Catherine Meurisse: An einem Schablonen-Wandbild mit den Gesichtern der Charlie-Redakteure ergänzen sie den fehlenden Philippe Honoré. „Wir brauchen solche symbolischen Akte, um zu genesen“, sagt eine von ihnen. Rührender gehts kaum.

Mein Scotty ist ein Stendhal-Syndrom

Wenn’s den Enterprise-Leuten beim Landgang zu heiß wird, rufen sie Scotty. Hol uns rauf, Alter. Catherines Scotty ist das Stendhal-Syndrom. Nur unzuverlässiger. Catherine fährt extra nach Rom, aber das Syndrom versetzt sie mehrfach. Die Lady gibt nicht auf. Wie auch? Wer einmal von der Humor-Muse geknutscht wurde, muss weitermachen. Auftrag vom Universum, dem wir Menschen ansonsten sehr weit am Arsch vorbeigehen, wo auch immer sich dieser Arsch befinden mag. Vermutlich sind es ganz viele Ärsche. An einem davon kleben wir Menschen. Letztes Bild: Catherine sitzt am Strand und blickt auf das Meer – eines der coolsten Kunstwerke, die uns das Universum hingerotzt hat. „Ich habe fest vor, wach zu bleiben, schon auf das kleinste Anzeichen von Schönheit zu achten.“ Das tut sie. Und wie! Mit jedem Panel schafft Catherine Meurisse Schönheit. Und Humor. Humorheit.

Merci beaucoup. Nous nous inclinons devant ce fabuleux morceau de beauté.

Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit, Carlsen Verlag 2017

PS: Bis 25. Januar 2021 logieren Zeichnungen von Catherine Meurisse im Centre Pompidou, Paris

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