Sketching the Silence

Kein WLAN, kein Uber, kein Pizzaservice – für die Generation Z die Apokalypse, für Onkel Henry eine Glücksbringer. Aber vermutlich hätten Gen-Zies ohne Navi die Hütte am Walden Pond gar nicht erst gefunden.
(Buchcover: John Porcellino / Jacob Covey – Disney/Hyperion)
D. B. Johnson: Walden at Thoreau – Introduction, 2018 (2008)

Respektmauer

Zum 150. Geburtstag von Walden1 schrieb John Updike, das Buch laufe Gefahr „verehrt und nicht gelesen zu werden“.2 In der kleinen Ewigkeit seit Erscheinen Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Ehrfurcht vor H. D. Thoreaus Einfachheitshymne zu einem dichten Wald, der den Zugang zu seinen Gedanken überwuchert. Waldens gefühlter Nimbus weckt neben grotesken Seelenheilserwartungen auch die Befürchtung, bei der Suche nach der quasi garantierten Erleuchtung zu scheitern, auf gut Hartmut Rosa gesagt, mit Thoreaus Geistesgewitter nicht in Resonanz zu treten. So schlummert das Buch dann ungelesen im Regal oder auf der beständigen To-read-Liste und vertreibt sich die Zeit mit dem Sammeln von Staubkörnchen und Mythen. Die Vereinnahmung durch Hipsterismus und Lifestylitis eskortieren die Lesemotivation schließlich zum Schafott. Nichts ist weniger Walden, als ein Produkt, eine Ware danach zu benennen.

The magic owl incident near Walden Pond
(Artwork: John Porcellino – Disney/Hyperion)

Die Rettung bringt ein kosmischer Würfelwurf: John Porcellinos Graphic Novel Thoreau at Walden. Mit simplen Strichen und nur einer zusätzlichen Farbe neben den schwarzen Linien auf weißem Grund, einem sandigen Ockergelb, befreit der Bildautor den Geist Waldens aus seinem Zeitgeistgefängnis. Walden ist weder Bauanleitung für eine Blockhütte noch Survival-Guide für ein beliebiges Outdoor-Abenteuer, weder Zurück-zur-Natur-Plädoyer noch Eremitage-Werbespot, weder Lifehack für Premium-Individualismus noch Knigge für zivilen Ungehorsam. Mit den Erfahrungen, die er bei seinem Experiment sammelte, argumentiert Thoreau für ein erfüllteres Leben durch weniger Besitz, durch weniger Dinge und Betriebsamkeit, die uns Bedeutung vorgaukeln, aber genau das Gegenteil davon sind: Müll.

Von Kauz zu Kauz

Die Sprache mit den Mitteln der Sprache zu überwinden ist offenkundig unmöglich. Wendet man sich nach innen, wird man nur Worte und Bilder finden, die Teil von einem selbst sind. Aber wenn man sich nach außen wendet – zu den Vögeln und den Tieren und den rasch sich verändernden Orten, an denen sie leben –, wird man vielleicht etwas hören, das über Worte hinausgeht. Auch Menschen können Stille finden, wenn sie es schaffen, die Stille zu vergessen, nach der sie suchen.3

Ein wunderbarer Pfad zur Einfachheit ist das Erfahren von Stille. In vielen seiner Panels verzichtet Porcellino gänzlich auf Text und nähert sich Thoreau so aus einer weiteren Perspektive. Im Walden-Kapitel Frühere Bewohner und Wintergäste (O: Former Inhabitants and Winter Visitors) beschreibt Thoreau seine Begegnung mit einer schläfrigen Eule, die ihn ziemlich nahe herankommen lässt, ehe sie wegfliegt. Eine Zeit lang beobachtet der menschliche Kauz den tierischen Kauz und lässt sich von dessen Schläfrigkeit anstecken. Porcellino gleicht die Mimik der beiden Wesen an. Erst wachsame Augen, verursacht durch ein Knirschen unter Thoreaus Stiefel, dann zufallende Augen. Schließlich dösen Mensch und Eule friedlich voreinander. Wer bisweilen Besuch von Meisen oder Eichhörnchen bekommt, weiß, wie beglückend es sein kann, ihnen dabei zuzusehen, wie sie vor sich hin mampfen, und die unterschiedlichen Persönlichkeiten der einzelnen Tiere zu entdecken.

„To be a philosopher is not merely to have subtle thoughts, nor even to found a school, but so to love wisdom as to live according to its dictates, a life of simplicity, independence, magnanimity, and trust.“4
(Artwork: John Porcellino – Disney/Hyperion)

Zen und die Kunst, alleine zu sein

Eine meiner schönsten Stunden erlebte ich während des andauernden Regens im Frühling oder Herbst, durch welchen ich, von seinem Plätschern und Rauschen umschmeichelt, sowohl nachmittags wie vormittags ans Haus gebunden war, wenn die früh hereinbrechende Dämmerung einem langen Abend Platz machte, an dem viele Gedanken Zeit hatten, Wurzel zu fassen und sich zu entfalten.5

Der Einsamkeit widmet Thoreau ein ganzes Kapitel. Es ist der Schlüssel zur Stille, zur Schönheit. In seiner Blockhütte am Walden Pond verwandelt sich Einsamkeit in spirituelle Erfahrung, wird zur Leinwand für den Transzendentalismus.6 Die Abwesenheit anderer Menschen hat für Thoreau nichts Trauriges.

I am no more lonely than the Mill Brook, or a weathercock, or the north star, or the south wind … Or an April shower, or a January thaw ... or the first spider in a new house.7

Zwischen den beiden Textbalken zeigt das dritte Panel auf dieser Seite eine kleine Spinne, die sich an ihrem Faden herunterlässt. Sonst nichts. Nur weiße Fläche. Die Symbiose aus Thoreaus beflügelnden Gedanken zur Einfachheit und Porcellinos schlichter und humorvoller Strichkunst tut Walden gut: als visueller Soundtrack und sanfter Klaps auf den majestätischen Hintern des Säulenbewohners.

Walden is back.

Der Satz beginnt mit:
„Some of my pleasantest hours were during the long
rain storms in the spring or fall, which confined me to the
house for the afternoon as well as the forenoon, soothed by their ceaseless roar and pelting; (…)“8
(Artwork: John Porcellino – Disney/Hyperion)

John Porcellino: Thoreau at Walden, 2008

Unterholziges

  1. Auf der Suche nach Einfachheit zog der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862) aus Concord, Massachusetts für nicht ganz zweieinhalb Jahre in eine selbstgebaute Blockhütte in einem Waldgrundstück am Walden Pond, das seinem Freund Ralph Waldo Emerson gehörte. Aus seinen Erfahrungen entstand Walden, veröffentlicht 1854, ein Kultbuch der Hippie-Bewegung und bis heute ein Mammutbaum der Kritik am American Way of Life. ↩︎
  2. John Updike: Fällige Betrachtungen. Essays; 2010 (O: Due Considerations: Essays and Criticism; 2007). ↩︎
  3. John Gray: Raubtier Mensch. Die Illusion des Fortschritts (Aus dem Englischen von Hans Freundl), 2015 (O: The Silence of Animals. Thoughts on Progress and other Modern Myths, 2013). ↩︎
  4. H. D. Thoreau: Walden or, Life in the Woods, 1854). ↩︎
  5. H. D. Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern (Aus dem Amerikanischen von Emma Emmerich und Tatjana Fischer), 1971/2004 (O: Walden or, Life in the Woods, 1854). ↩︎
  6. Weitere Hirne dieser philosophischen Denkrichtung gehörten Ralph Waldo Emerson (1803-1882) und Margaret Fuller (1810-1850). ↩︎
  7. John Porcellino: Thoreau at Walden, 2018 (2008) – Porcelino hat das Originalzitat zerstückelt und über mehrere Panels verteilt). ↩︎
  8. H. D. Thoreau: Walden or, Life in the Woods, 1854). ↩︎

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert