Wer war Bartleby? (…) Ein unzustellbarer Brief … adressiert an die bedauernswerte Menschheit?
José-Luis Munuera: Bartleby, der Schreiber (nach einer Erzählung von Herman Melville; aus dem Französischen von Tanja Krämling), 2022
Another Brick in the Wall Street?
Die doppelte Cover-Innenseite am Anfang und am Ende des Buchs füllt jeweils eine Ziegelsteinmauer, ähnlich der auf Pink Floyd’s The Wall1, nur rot statt weiß. Ein starker Einstieg und Abgang. So eine Mauer sieht der Titelheld dieser Graphic Novel, wenn er an seinem Schreibtisch aus dem Fenster blickt. Das Bürogebäude steht in der New Yorker Wall Street. Bartlebys Chef, ein Notar, aus dessen Perspektive Herman Melville die Geschichte2 erzählt, entschuldigt sich bei bei seinem neuen Mitarbeiter für den Ausblick:
Ursprünglich zeigte das Fenster auf den Hinterhof, aber der Fortschritt hat die Aussicht verdrängt. Wie überall, fürchte ich.
Kein Problem für Bartleby. Überhaupt ist er anfangs die Erika Mustermann eines Angestellten, wie der Kapitalismus sie schätzt: fleißig, bescheiden, für jede Überstunde zu haben. Doch dann, nach etwas mehr als einem Drittel des Buchs, taucht plötzlich Bartlebys legendärer Satz auf. Er fällt aus seinem Mund so sanft wie Schnee, dabei schwingt er durch den Raum mit der Bedrohlichkeit einer Abrissbirne:
Ich möchte lieber nicht.
Bartlebys schlichter Satz ist ein Signal wie es anti-kapitalistischer kaum sein könnte. In der Verweigerung schlummert Sprengkraft, egal im welcher Form sie auftritt – als Kriegsdienstverweigerung, Konsumverweigerung, Fortpflanzungsverweigerung, Wahlverweigerung, Familienverweigerung oder Ausgrenzungsverweigerung. Marode Systeme wie der Kapitalismus brauchen Mitläufer, Mitmacher, Ja-Sager.
Als Gegenpol zum wankelmütigen Notar, der nicht weiß, wie er mit Bartlebys Weigerungshaltung umgehen soll, dient ein besonders griesgrämiger Bekannter3, dem der Notar sein Leid klagt. Er verkörpert den Prototyp des kapitalistischen Ausbeuters4 und symbolisiert die unbarmherzige Seite des inneren Konflikts der Erzählers. Der Pre-Ghost- Scrooge hat kein Verständnis für die Geduld des Notars mit Bartleby, dem „störenden Rädchen im Getriebe“:
Stellen Sie sich nur eine Sekunde vor, Ihre anderen Mitarbeiter beschließen ebenfalls, lieber nicht zu möchten, statt zu gehorchen!
The Big Bartleby
Als Einstieg, quasi als graphic-noveleskes Vorwort und später noch als Einschub wählt Zeichner José-Luis Munuera Gedanken aus Henry David Thoreaus Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat. Allein dieser geniale und elegant visualisierte Einfall macht Bartleby zu einem Meisterwerk, einer Graphic Novel, die Melvilles Vorlage weiterdenkt, direkt und inspirativ mit anderen Meisterwerken verlinkt. Auch bei Thoreau geht es um Verweigerung: Nicht mitmachen, wenn der Staat für Unrecht steht, oder – wollen wir aus aktuellem Anlass hinzufügen – der Staat wieder dabei ist, Kriegsbereitschaft zu propagieren.
Was der Stranger in The Big Lebowski eingangs über den Dude sagt, gilt noch mehr für Bartleby:
Sometimes, there's a man, well, he's the man for his time and place. He fits right in there.5
Der richtige Mann am richtigen Ort. Wie Oliver Benjamin und Dwayne Eutsey schreiben6, steht auch der Dude für Verweigerung7: sichtbar in seiner pazifistischen Grundhaltung, seiner gefühlten Umsetzung von Bruce Lees Praxis-Philosophie „Be water!“8 und im maximalen Kontrast zum namensgleichen Millionär und Reaganist Jeffrey Lebowski.
Um dem Neoliberalismus zu trotzen, brauchen wir Menschen wie Bartleby.
Viele Bartlebys.
Dudes mit Leib und Seele.
Be Bartleby!
Munuera zeichnet die Szenen in der monochromen Sepia-Trostlosigkeit, in der wir uns das 19. Jahrhundert vorstellen. Kalt, nass und herzlos wie das London von Charles Dickens. Viele großformatige Bilder und immer wieder ganze Seiten ohne Text oder mit nur wenig Text. Da blicken wir direkt in Bartlebys Seele. Abgesehen von dessen beiden Kopier-Kollegen mit den überzogenen Nasen und den sprechenden Namen9 gestaltet Munuera seine Figuren angenehm uncomicös. Selbst die New Yorker Straßenszenen dünken ruhig, klar und sortiert als wäre sie ein Teil von Bartlebys Schreibtisch.
Eine der traurigsten Panels unter all den traurigen Panels: Der Notar schafft es nicht, Bartleby, der jetzt alles verweigert, aus seinem Büro zu vertreiben. Also beschließt er, selbst umzuziehen. Möbelpacker haben das Büro leergeräumt. Nur Bartleby steht noch da, zur Mauer erstarrt. Mit hängendem Kopf und hängenden Schultern, beschattet von diffusem Licht, gespiegelt im blanken Fußboden. Als warte er darauf, sich aufzulösen.
Was wir lieber noch anfügen möchten …
- Pink Floyds The Wall haben wir einen eigenen Post gewidmet: The Red, Black and White Album ↩︎
- Herman Melvilles (1819-1891) Original erschien erstmals 1853 als Bartleby, the Scrivener. ↩︎
- In Melvilles Erzählung aus der Ich-Perspektive des Notars taucht diese Figur nicht auf. ↩︎
- An einer anderen Stelle sagt er: „Man muss sich stets vor Untergebenen, Angestellten und Arbeitern hüten … Denn bei der geringsten Gelegenheit schließen sie sich zu Gewerkschaften zusammen! (…) Das einzige, was sie interessiert, ist das Geld von ehrenwerten Leuten wie Ihnen und mir.“ ↩︎
- Joel Coen & Ethan Coen: The Big Lebowski, 1998. ↩︎
- Oliver Benjamin & Dwayne Eutysey sind die Gründer des Dudeismus, einer Religion/Philosophie, die sich auf den Dude bezieht. Mehr dazu auf der (englischen) Website Dudeism.com, bei unserem Chat mit Oliver Benjamin, im Buch The Abide Guide bzw. dessen dt. Übersetzung (von unserem Chef Jonny Rieder): Der Dude und Du (sorry, leider nur via fucking Amazon). ↩︎
- Vgl. das Kapitel Eine dudeokratischere Gesellschaft schaffen: Die Politik des Dude in Der Dude und Du: „Eine dudemäßigere Welt ist möglich. Die Revolution ist nicht vorbei. Sie hat nur irgendwo den Faden verloren.“ ↩︎
- Bruce Lee: Be Water (Interviewauszug auf Youtube, 0:38 Min.) ↩︎
- Sie heißen Nippers (dt.: Zange) und Turkey (dt.: Truthahn – aber auch: Depp, Flop) ↩︎