Folglich zielt der Neoliberalismus auf die Schaffung eines gewährenden schwachen Staates für Reiche und Konzerne und zugleich auf die Schaffung eines starken disziplinierenden Staates für die Bevölkerung.
Rainer Mausfeld: Angst und Macht, Westend Verlag 2019.
(Hier geht’s zur ersten Folge: Angst essen Denken auf)
Die Selbstauflösung einer zumindest demokratiespielenden Gesellschaft in einer durch und durch neoliberalistischen Gesellschaft, die elementare soziale Institutionen wie Gesundheit, Bildung und Wohnen einer stupiden Gewinnmaximierungsrationalität unterwirft, zerstört die Menschen psychisch und physisch. Sie zerstört ihre Lebensgrundlage, indem sie Natur nach und nach in Müll verwandelt, der dem natürlichen Kreislauf entzogen ist. Sie formt Menschen zu Zahnrädern einer stetig wachsenden Konsumgüterfabrik und zugleich zu deren zuverlässigste Konsumenten. Um die Kontinuität dieses Prinzips zu gewährleisten, setzen die Hohepriester (Staat und Konzerne) auf Angst. Sie ist keineswegs ein zufälliges und für die Mächtigen nützliches Nebenprodukt ihrer Ökonomisierungsagenda – Angst ist Teil des Projekts. Praktisch jeder Aspekt menschlichen Daseins unterliegt heute dem marktwirtschaftlichen Wettbewerbsterror. Er zwingt die Menschen zum permanenten Vergleich mit anderen und zur stetigen Selbstoptimierung – aus Angst, nicht weiter aufzusteigen oder gar abzusteigen oder – am schlimmsten – für immer ganz unten zu bleiben.
Du sollst den Neoliberalismus heiligen
Anstatt die Schuld beim System oder dessen wenigen Nutznießern zu suchen, mündet diese Angst in unpolitische Lethargie und in „Hass auf die Schwachen und Armen“1, also auf jene Menschen, die der Kapitalismus als „Abfall des Marktes“ 2 aussortiert.
Die von seinen Lakaien und Nutznießern mosestafelmäßig verkündete Alternativlosigkeit des Neoliberalismus ist quasi Guano-Dünger auf den Feldern des Rechtspopulismus. Dessen Anwachsen in den letzten Jahren ist „eine Konsequenz der radikalen Entleerung des politischen Raumes durch die neoliberalen Kartellparteien“3. Dabei liegen Rechtspopulismus und Neoliberalismus ideologisch sehr nahe beieinander. Beide aktivieren Nationalismus als Verblödungsfeature, sind zutiefst rassistisch und anti-intellektuell. Und beide begrüßen Hierarchien und Eliteherrschaft – nur eben gemäß der jeweiligen kulturellen Färbung.
Wirklich bedrohlich hingegen wäre für sie ein gesellschaftlicher Wandel, der an die Wurzeln gegenwärtiger Machtverhältnisse ginge, denn dadurch würden auch die Kartellparteien ihre Existenz verlieren.4
Um eben diese Kritiker zu diffamieren, befeuern neoliberale Medien und Politiker das Vorurteil, hinter jeder Kritik am Kapitalismus stecken Rechtspopulisten oder Verschwörungsspinner, womit diese Kritiker sich für (zumindest vordergründig) demokratisch gesinnte Bürger automatisch außerhalb des zulässigen Meinungsspektrums bewegen. Diese Taktik hat noch nie so gut funktioniert wie im Kontext der Kritik an den weitgehend sinnfreien, widersprüchlichen, willkürlichen, autoritären und zutiefst antidemokratischen Pandemie-Maßnahmen.
Unter dem Plastikstrand liegen die Wurzeln
Der kürzeste Teil des von Rainer Mausfelds Buch ist der Ausblick auf eine angstfreie Gesellschaft. Das ist traurig und liegt daran, dass die Ideologie des Neoliberalismus und die Vorstellungen, auf denen sie beruht (Meritokratie etc.), in westlichen Gesellschaften so tief verinnerlicht sind, als handele es sich nicht um eine von vielen möglichen Wertvorstellungen, sondern um ein naturwissenschaftliches Gesetz, zeitlos gültig wie die Himmelsmechanik oder die biologischen Gesetze vom Entstehen und Vergehen des Lebens. Die Aufklärung hat also noch ein ganzes Stück Arbeit vor sich.
Ein wirksames zivilisatorischen Gegenmittel kann nur von unten kommen und muss von unserer Entschlossenheit und unserer unbeirrbaren Überzeugung geleitet sein, dass es keine Form gesellschaftlicher Macht geben darf, die nicht demokratisch legitimiert ist.5
Wer nicht genug kriegen kann von der lebensfeindlichen Performance des Neoliberalismus, empfehlen wir u. a. Naomi Kleins Schock-Strategie (2021) und das neue Buch von Chomsky & Waterstone: Konsequenzen des Kapitalismus (2022), die wir in diesem Blog vielleicht ein andermal vorstellen.
Post-its
- Rainer Mausfeld: Angst und Macht, S. 93, Westend Verlag 2019. ↩︎
- Philip Mirowski: Untote leben länger: Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist, Matthes & Seitz 2015 (zitiert in: Mausfeld, Angst und Macht, S. 93). ↩︎
- Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer, S. 200, Westend Verlag 2015 (zitiert in: Mausfeld, Angst und Macht, S. 51). ↩︎
- Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer, S. 208, Westend Verlag 2015 (zitiert in: Mausfeld, Angst und Macht, S. 62). ↩︎
- Rainer Mausfeld: Angst und Macht, S. 102, Westend Verlag 2019. ↩︎